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AUGST & DAEMGEN / seit 1998

„…dass es wie auf der Kippe steht, als könnte es jederzeit wegbrechen, für alle Zeiten komplett verschwinden.“

Zur „Arbeit“ am deutschen Lied
von Bastian Zimmermann

Es ist schwer über etwas zu reden, das wir jetzt ein wenig abgelegt haben. Ein bisschen vordergründig und platt. Natürlich „Arbeit“. Wir arbeiten am Text, am Ganzen, aber was ist das schon? Das ist ja nichts Spezifisches. Das machen alle irgendwie, wenn sie sich mit Liedern oder überhaupt mit Musik beschäftigen. Also könnte man eher fragen, um was geht es bei unserer Arbeit? Ich würde gar nicht versuchen, das noch weiter zu erklären, sondern lieber sagen: auf den Namen gar nicht mehr eingehen. Das ergibt sich jetzt erst, wenn wir weiterreden … (Marcel Daemgen)
Oliver Augst und Marcel Daemgen haben dieses Jahr ihre „Arbeit“ niedergelegt. Zu verkopft sei der Name. Ein jeder würde sie auf darauf ansprechen, erzählen sie in einem der wenigen ruhigen Cafés Frankfurts nahe dem Hauptbahnhof am Wiesenhüttenplatz. Ja, die Arbeit am Text, klar, die sei offensichtlich. Und ein Album, das „MARX“ heißt und ausschließlich mit sozialistischen Arbeiterliedern bestückt ist, existiere auch. Trotzdem sei der Name „Arbeit“ ihrer nun knapp fünfzehn Jahre andauernden Kollaboration zu eindeutig. Aber auch zu abstrakt. Er theoretisiere ihr Schaffen zu sehr. Deutsche Liedtexte von der Romantik bis in die Gegenwart würden sie natürlich weiterhin bearbeiten, jetzt als Augst & Daemgen.
Ihre Musik gewährt den Hörern annähernd soviel Zugriffe, wie es Hörer gibt. Mit anderen Worten: Sie ist sehr zugänglich für Projektionen, Emotionen und Erkenntnisse. Die Musik von Augst & Daemgen ist offen für jedweden Gebrauch durch den Hörer. Obwohl der Rahmen für die Bearbeitung der Lieder weit gesteckt ist: Von brachialen Noise-Collagen über Chorgesänge, elektronische Verfremdungen bis hin zu Schnulzen. Bei einer solchen Bandbreite an Ausdrucksweisen muss ein distanzierter, theoretisierender Zugang zu all den verschiedenen Musiken wohl unzweifelhaft vorliegen. In irgendeinem versteckten Kämmerchen wird es Theorie auch bei Augst & Daemgen geben. Doch mit einer allzu reflexiven Haltung verfehlt man als Hörer die Musik. Primär seien sie Musiker, ja besser noch: Musikanten. Keine Komponisten. Und keine Partiturenschreiber.
Es ist alles eine Frage der Haltung …
… insbesondere musikalisch. Einer der Knackpunkte in der Musik von Augst & Daemgen besteht in der Abwehr von akademischen Haltungen. Beide haben zeitweise Musikinstitutionen durchlaufen. Das soziale Gefüge von Musikhochschulen inklusive des Schutzraums, den sie gewähren, ist dabei eine Sache. Doch wenn Augst & Daemgen sich in Bezug auf ihre Musik von akademischen Haltungen loslösen wollen, dann hat das mehr mit den ästhetischen Ein- und Auswüchsen solcher Institutionen zu tun. Vornehmlich die akademisierte Arbeitsteilung zwischen Komponisten und Musikern.
Musik fängt bei Augst & Daemgen mit dem Musikmachen an. Und das Musikmachen fängt mit dem Lied an; einem in Gemeinschaften virtuell geteilten Gedankengut, das je nach Situation und Stimmung anders intoniert, dargeboten oder neu getextet werden kann, das aber seine Aussagekraft immer über ein einheitsstiftendes Moment erhält – ähnlich den sozialen Konventionen, die jeder kennt und über die man sich nicht mehr verständigen muss. Aus der Sicht von Augst & Daemgen kann man das Anfertigen einer Partitur in einer ursprünglichen Form begreifen: Es muss das notiert werden, was man sich nicht einfach merken kann. Die Notation ist eine Notiz. Augst & Daemgen umgehen damit, aus einer kritischen Perspektive betrachtet, die mannigfaltigen Rationalisierungsprozesse der (Kunst-)Musik, wo beispielsweise selbst das kleinste Detail einer Lautproduktion oder -äußerung zu fixieren versucht wird. Dieser (Um-)Weg über die Partitur evoziert einen rationalistischen Umgang mit Musik, bei welchem den Musikern Handlungen, Gesten und Aktionen vorgeschrieben werden – egal, wie offen die Partitur angelegt ist. Das Musizieren mit den je eigenen, ästhetischen Qualitäten und Prozessen wird hier nur in sehr spezifischen, theoretisierten Zusammenhängen berücksichtigt.
Heute findet man avancierte Musikanten im Bereich des Pop, einem Sammelbegriff für Musiken, die sich insbesondere durch die ästhetische und soziale Einheit von Musik und Performance, das heißt, die wie auch immer geartete Identifikation des Musikers mit seinem Instrument, auszeichnen. Dabei scheint gerade im Kontext des Lieds die Rede von „Performance“ fehl am Platz zu sein, da hier erfahrungsgemäß nie eine Trennung der Sphären von Inhalt und Darbietung stattgefunden hat. Jede Klangerscheinung wird so wahrgenommen, dass sie von jemandem mit bestimmten lebensweltlichen Einstellungen, Objekten, Gesten oder Handlungen verursacht wird. Der Ton wird demnach nicht nur als Teil einer musikalischen Ordnung wahrgenommen, die sich im Musizieren ergibt, sondern auch als Akt(-ion) seiner Hervorbringung. Daher kann im Popsong, dem (post-)modernen Volkslied, selbst ein einfacher Turnaround I-VI-II-V von Hunderten Musikern „wiederholt“ werden und weiterhin sein Potential für Ungehörtes bewahren. Die Erfahrung, dass bestimmte Motive, Phrasen oder Rhythmen sich ständig wiederholen, sei es im Pop, im Schlager oder auch in der neuen Musik, gründet demnach weniger in einem spezifischen Genre, als vielmehr im erblassten und toten Umgang mit den Stilmitteln. Das Neue, Ungehörte wäre demnach eher selten ein Produkt der Reflexion als vielmehr das Ergebnis unterschiedlichster Verhaltensdispositionen − also der Fähigkeit oder Möglichkeit ein bestimmtes Verhalten im Umgang mit den für das jeweilige Stück wichtigen musikalischen Parametern zu zeigen.
Deutsche Lieder
Wir haben gerade vor zwei Wochen im Nationaltheater in Mannheim gespielt, ich betreue da die Reihe „Utopie Station“. Da haben wir das jedem Deutschsprachigen bekannte Lied „Der Mond ist aufgegangen“ gespielt. Und wir hatten in der Probe vorher festgestellt, dass es fast unmöglich ist, dieses Lied zu spielen, ohne in diese Wiederholungsschleife reinzukommen. Wir hatten uns aber vorgenommen, das so hinzukriegen, dass es wie auf der Kippe steht, als könnte es jederzeit wegbrechen, für alle Zeiten komplett verschwinden. Und genau auf so einer Kippe haben wir das angesiedelt, mit nur ganz wenigen Tönen als Begleitung. Und ich habe auch versucht, gar nicht in diesen Liedfluss reinzugehen, sondern habe ganz, ganz leise gesungen. Und ich war mir dabei gar nicht sicher, wie hoch ich gehen muss. Wenn ich leise singe, komme ich manchmal nicht richtig hoch, zumindest nicht in dem Sound, den ich gerne hätte. Ich bin also in technischer Hinsicht auf der Bühne ganz unsicher gewesen. Und das war aber der Moment, in dem ich dachte: Hier kann man rein. Hier kann man versuchen, dieses Stück anzupacken – das erlebt ja jeder mit. Und ich glaube, es ist ganz schön geworden. Ganz knisternd, ganz zerbrechlich. Für mich hört es sich so an, als hätte ich es zum ersten Mal in meinem Leben gehört, obwohl ich meine Tochter auch jahrelang damit gefüttert habe (Oliver Augst).
Ein Text als Vorlage, und man fängt an, auszuprobieren, etwas aufzunehmen, zu begutachten, zu verwerfen, sich mit dem Kollegen zu beratschlagen. Es geht darum alten, meist deutschen Liedtexten etwas Neues abzugewinnen, sie im traditionellen Sinne zu bearbeiten. Augst & Daemgen haben bisher sechs Alben produziert. Mit „Brecht – Eisler“ (1998) begann die erste Phase, in der sie sich historisch teils schwer belasteten Liedern angenommen haben. Waren es hier noch die anerkannten Lieder der musikalischen Avantgarde, so folgten mit „An den deutschen Mond“ (2001) Volkslieder wie „Der Jäger längs dem Weiher ging“, „Ich stand auf hohem Berge“ oder „Maria durch ein Dornwald ging“, mit „MARX“ (2004) sozialistische Arbeiterlieder wie „Die Internationale“ und „Der heimliche Aufmarsch“ und schließlich mit „Jugend“ (2007) romantische Kunstlieder wie „Lied der Mignon“ von Franz Schubert und „Mondnacht“ von Robert Schumann. „Anmut sparet nicht, noch Mühe“ lautet das Eröffnungslied aus dem zweiten Album „An den deutschen Mond“. Das auch als die „Kinderhymne“ bekannte Lied war einstmals der Versuch Bertolt Brechts, einen Gegenentwurf zur bundesdeutschen Nationalhymne, dem Deutschlandlied, zu schaffen. Kurz nach der Wende 1990 forderten schließlich wieder mehrere Bürgervereinigungen, Brechts „Kinderhymne“ zur neuen Nationalhymne zu erklären. Hanns Eisler komponierte in den vierziger Jahren das harmonische und melodische Gerüst, das nun auch bei Augst & Daemgen, wenn auch nur fragmentarisch, zum Tragen kommt.


Bertolt Brecht
Kinderhymne

1. Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Dass ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.

2. Dass die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.   
           
3. Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

4. Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir's
Und das liebste mag's uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.


Die vier Strophen werden von einem metrumfreien, jedoch beständig präsenten Synthesizerbass und flirrend hohen, für das Ohr fast unerträglichen Klängen begleitet. Augst trägt die ersten Zeilen des Lieds nah am Mikrophon kratzend und distanziert vor –  in melodischer Anlehnung an das Original. Mit dieser direkten und trockenen Stimme entsteht eine seltsame Intimität mit dem Inhalt des Texts und dem Lied. „Dass ein gutes Deutschland blühe“ wird mit einer simplen Akkordwendung von einer kleinen Elektro-Orgel ähnlich einem Casio-Keyboard begleitet. Abbruch, wieder trockene, abgehackte Klänge. Erst mit „dass die Völker nicht erbleichen“ pulsiert der Bass im Metrum der Stimme zumindest dreimal. Die kleine Orgel hinkt mit ihrer Begleitung etwas hinterher, der Keyboarder scheint sich zu verspielen, es entstehen dissonante Mischklänge, die sich klanglich dem Flirren nähern. Plötzlich ertönen mit „Von der See bis zu den Alpen/Von der Oder bis zum Rhein“ Streicherklänge aus einem fernen, weiten (Heimat-)Raum; die einsame Stimme wird durch die räumliche Weite der Klänge erlöst, in einen Kontext gesetzt, der der Einsamkeit wenigstens einen Ort gibt. Ambivalente Gefühle von Heimat und Verlorensein in ihr kommen zu Tage.
Es ist eine Arbeit im Studio oder auf der Bühne. Erstmal wird Material erzeugt. Wenn ich jetzt mal von mir rede, dann habe ich keine komplette Idee, wenn ich an einen Text rangehe. Oft noch nicht mal eine Vision, sondern ich fange an irgendeinem Punkt an. Der Text ruft eine Frage in mir auf, und ich fange an zu spielen, mit meinen musikalischen Mitteln, mit meinen Instrumenten, und lasse das Material zu mir sprechen. Ich nehme mir das meistens gleich auf, höre mir das an und versuche, unter Umgehung aller Vordefinitionen meiner Bildung alles zu vergessen, möglichst die Methode so zu wählen, dass ich nicht in Versuchung komme, an Harmonielehre zu denken und all diese handwerklichen Pakete, die mir mitgegeben wurden, sondern möglichst unverbraucht und fast ein wenig dilettantisch da heranzugehen, einfach zu spielen, Klänge zu erzeugen, denen zuzuhören und immer wieder festzustellen, dass die unvorhergesehenen und nicht beabsichtigten Übergänge von einem Klangzustand in den nächsten oft die sind, die ich mir heraussample, die mich interessieren. Das wiederholt sich eine Zeitlang. Dann sammle ich mein eigentliches Klangmaterial und komme irgendwann einmal zu einem weiterführenden Ergebnis, das das Lied betrifft. Und dann greift vielleicht einmal die Ausbildung, so dass ich sage: Ich möchte aber ganz gerne, dass man da einen Akkord hört, der zu dem Gesang passt, und den baue ich dann da ein. Aber das passiert erst im dritten, vierten Schritt“ (Daemgen).
Identifikation


Udo Jürgens
Illusionen

Illusionen blüh'n im Sommerwind
Treiben Blüten, die so schön,
doch so vergänglich sind
Pflückt sie erst an deinem Wege die Erfahrung,
welken sie geschwind

Illusionen schweben sommerblau
Dort am Himmel deines Lebens
doch du weißt genau
Jenes wolkenlose Traumbild deiner Phantasie
erfüllt sich nie

Illusionen blüh'nde Wirklichkeit
Zum Tanz der Jugendzeit
Ein erster Hauch von Leid
Wird sie verweh'n
Doch solang ein Mensch noch träumen kann
Wird sicher irgendwann
Ein Traum ihm in Erfüllung geh'n


Kann es sein, dass ich auf so einen kitschigen Keyboard-Streicher-Quatsch hereinfalle? Oder unterliege ich seit langem unberechtigten Vorurteilen? Gehen diese Klänge mich wirklich was an?
Tatsache ist, sie berühren mich. Und Augst & Daemgen schämen sich nicht ihrer Handhabung – egal um welche Klänge, Texte, Melodien und Harmonien es sich handelt. Selbst bei einem Schlager wie „Illusionen“ aus dem Album „Jugend“, ein von Udo Jürgens geschriebener Hit der Sängerin Alexandra aus dem Jahr 1968, scheuen sich Augst & Daemgen nicht, in die Vollen zu gehen und die „Illusionen blüh'nde Wirklichkeit/Zum Tanz der Jugendzeit“, zunächst von einem Jazzquartett begleiten zu lassen, schließlich mit Chor und Streichern zu versehen und mit vollem Pathos das Leben und das utopische Empfindungsvermögen zu besingen. Anstatt sich den gegenwärtigen Künstlergestus anzueignen und die eigene Position gegenüber dem Untersuchungsgegenstand Schlager klar und deutlich, am besten kritisch zu verorten, produzieren Augst & Daemgen – für die Ohren eines Avantgardisten provokativ formuliert – „einfach“ eine bessere Cover-Version des Schlagers, bei dem selbst eingefleischte Neue-Musik-Hasen anfangen zu schunkeln.
Diese Herangehensweise, das Vermeiden des Bildungspakets, das ich mit mir herumschleppe, benutze ich ja, weil ich mir die größtmögliche Offenheit und Freiheit erhalten will, um auf das Material einzugehen, das da liegt. Ein Lied wird eigentlich erst dann interessant, wenn es viele Interpretationen zulässt. Wenn es viele Wahrheiten hat, nicht nur eine. Wenn nun ein Zuhörer etwas ganz anderes dazu sagt, als das, was ich jemals gedacht habe, dann gefällt mir das, finde ich das spannend (Daemgen).
Erwischt
Und das lässt sich ja noch weiter spannen. Diese Offenheit ist nicht nur innermusikalisch, sondern auch politisch. Wir haben da ja ganz klar mit Marx verbehaftete, sozialistische Arbeiterlieder, also immer weitgehend linkes Gedankengut bearbeitet. Und festgestellt, das man das vor Millionärs-Riegen oder gut situiertem Museumspublikum spielen konnte. Die klatschen da mit. Und lassen sich von dieser Offenheit, die wir da drin haben, mitreißen. Dass es sich eben nicht wie Hannes Wader anhört, der zum Gewerkschaftsding eingeladen wird. Auf der anderen Seite – das war für mich ein großartiges Erlebnis – haben wir vor nicht allzu langer Zeit im Institut für Vergleichende Irrelevanz, kurz IVI, hier in Frankfurt gespielt. Mit dem gleichen Programm – es gibt da immer Stücke, die variieren, mit offenen Scharnieren drin. Das waren durchweg junge Leute, die vom Alter her meine Kinder sein könnten. Ganz aufgeweckte, fitte Leute. Und die haben erstmal mit Argwohn unsere Schlipse und Anzüge angeschaut. Aber wenn man dann loslegt mit dem Programm: konnten die Leute einsteigen. Das ist ja auch ein eher linkes Umfeld. Und ich dachte, man kommt da mit altväterlichen Stücken und Phrasen an (Augst).
Die Musik von Augst & Daemgen ist Kunstmusik, denn sie bewirkt, dass man Situationen, Gefühle oder Gedanken anders wahrnimmt, erkennt und einordnet. Nicht, dass sie damit für die Sphäre der Kunst legitimiert werden sollen, vielmehr sind Augst & Daemgen ein Zeichen dafür, dass Kunst beziehungsweise die Erfahrung, die mit Kunst gemacht wird, auch woanders stattfinden kann. Und dabei kommt ihre Musik ganz ohne irgendwelche legitimierenden Prämissen des Kunstdiskurses aus: Keine nennenswerte kritische Reflexion, gewitzte Material(er-)kenntnis oder Haltungen zur Musikgeschichte. Augst & Daemgen machen im besten Sinne des Pop [was ist der beste Sinn des Pops?] Musik für die Leute. Wie kann ich diesen oder jenen Text heute noch darbieten im Rahmen eines Lieds, das mal einem Gebrauch unterlag? Ein Lied, in das man sich einfühlte, mit dem man in die Ferne sehnte, das im Spiel der Kinder Verwendung fand, das von KZ-Häftlingen bei der Zwangsarbeit gesungen wurde oder zu dem man stramm zu stehen hatte. Diese Gebrauchsweisen sind – zumindest bei den von Augst & Daemgen bearbeiteten Liedern – Vergangenheit. Zum Glück, würde man bei den meisten aus politischen Gründen sagen. Der gegenwärtige Zustand der mehr oder weniger freien Verfügbarkeit alles vorhandenen historischen Materials erzeugt hierbei neue Strategien, mit den Liedern umzugehen. Augst & Daemgen lassen Poplieder aus den alten Liedtexten erstehen, denn die Strategien des Pop sind denen des Lieds ähnlich. Alle Lieder wollen gehört und gebraucht werden. Und indem sie über ihre eigene Vergangenheit hinweg schauen (und in ihrer Eindringlichkeit doch wieder unweigerlich hinschauen) entwickelt sich eine ganz eigene Logik und Ethik – eben die des Pop.
Hier ist nichts versteckt, es wird nichts negiert. Man meint, diese Musik kann sich alles erlauben. Und das kann sie! Es gibt keinen sozialen Code, den man erst entdecken und lernen müsste. Alles liegt offen da, auf dem Präsentierteller, sogar Augst & Daemgen selbst, die sich in der Zurschaustellung ihrer lapidaren Mittel sogar einer hohen Verletzlichkeit preisgeben, wie bei einem Konzert am 29. August 2012 im Erdgeschoss des Commerzbank-Towers in Frankfurt geschehen. Unterstützt vom Schlagzeuger Bernhard Reiss und ohne eine nennenswerte Verstärkung der Instrumente trugen sie das Programm ihrer neuen CD „In zehn Sekunden ist alles vorbei“ mit Liedern von Peer Raben vor. Künstlerisch völlig unprätentios, fast kindisch und naiv verhallten die radikal minimalistischen Klänge in der Mensa, einem nur provisorisch eingerichteten Raum für Kultur – nicht [was will der Autor sagen?]. Kein Gefühl für Raum zwischen den gläsernen Wänden der Bühne. Die Leere zwischen den verstolperten Beats, der Moment, wenn von der Eins auf der Bass- bis zur Drei auf der Snaredrum schlicht und einfach nichts erklingt, drohte den ganzen Saal zu kapern. Aber Augst, Daemgen und Reiss hielten das Schweigen der Klänge aus – jeder auf seine Weise. Jedes Wort, jede Phrase und jede Geste stand für sich da, allein, durchleuchtet vom gelben Schein des Kommerzes und mit etwas Fremdscham beobachtet von den Zuhörern, die wahrscheinlich möglicherweise eine ziemlich intensive Erfahrung und Hochachtung vor den Musikern mit nach Hause nahmen.

Marcel Daemgen, Oliver Augst und Bernhard Reiss (v.l.n.r) am 29.08.2012 auf der Bühne im Commerzbank-Tower in Frankfurt/Main. (Foto: Bastian Zimmermann)

Es wäre schwer, sich auf eine Seite zu schlagen, also wirklich hinter dem „Heimlichen Aufmarsch“ zu stehen. Das geht, glaube ich, gar nicht. Ich könnte es nicht ernsthaft vertreten. Es muss immer über eine Brechung laufen, so dass im Moment des Vortragens die Sache hinterfragt wird. Das ginge aber nicht, wenn man es, so wie Helge Schneider, total veräppelt. Schon in den ersten Sekunden würde man riechen, das man sich jetzt drüber kaputtlachen kann, das nimmt dann niemand mehr ernst. Ich finde es toll, das auszuloten: Wie nah kann ich da ran gehen? Wann wird mir selber eklig dabei? Wann ziehe ich mich wieder zurück? Es ist dann live auch unterschiedlich geschehen, zum Leidwesen meiner Mitmusiker. Es ist manchmal so, dass ich einfach aufhöre, Texte zu singen, ich höre dann einfach auf. In dem Moment denke ich, ich kriege diesen Bogen nicht mehr, dass diese schillernde Position herauskommt, dass ich das offen halten kann. Dann gehe ich einfach weg. Die Anderen spielen noch ein bisschen weiter, merken es dann irgendwann – okay, das war es jetzt. Aber das muss auch möglich sein. Und  es wird dann interessant, wenn man diesen Gehalt zur Disposition stellt, in einem Stück wie „Der heimliche Aufmarsch“, in dem ja, wenn man es Eins zu Eins liest, zu Waffengewalt aufgerufen wird: „Schlagt die Faschisten tot“. Dann hören die Leute wirklich mal hin. Das ist zwar ein Reißer, so eine Art Schlagerding geworden, wie wir es machen, aber was steht hinter den Zeilen? Da weiß man, warum so etwas geschrieben und komponiert wurde (Augst).
Die Musik der beiden neuesten Alben „Fassbinder Raben“ (2010) und „In zehn Sekunden ist alles vorbei“ (2012), eine weitere Einspielung der Peer-Raben-Lieder mit Originalzwischenspielen alter Orchesteraufnahmen von Raben, hat eine völlig andere Anmutung als die früheren Alben „MARX“ und „Jugend“. Durchgehend liedhaft, einige wenige Brüche. Augst & Daemgen begründen dies mit der anderen Art des Materials. Zu deutschen Volksliedern, sozialistischen Arbeitslieder oder KZ-Liedern verhält man sich anders als zu den wenig bekannten Liedern eines Peer Raben, der für viele Filme von Rainer Werner Fassbinder die Musik geschrieben hat. Es geht ihnen darum, diese Lieder überhaupt wieder erklingen zu lassen.
Man meint zu spüren, dass die sechs veröffentlichten Alben einer kontinuierlichen, aber paradox anmutenden Entwicklung unterliegen: von der handfesten Bearbeitung historischer Lieder hin zum Liedermachen selber. Die Abschaffung ihres alten Namens „Arbeit“ und das weniger bruchhafte Musizieren mögen Indizien sein. Zudem ist das nächste Projekt der beiden ein Album, für das sogar Schlagergrößen wie Christian Anders („Es fährt ein Zug nach nirgendwo“) ins Studio eingeladen werden sollen. Einen offensiveren Umgang mit dem deutschen Lied kann es kaum geben.
Die Tendenz bei Augst & Daemgen, schlicht und einfach Lieder zu spielen und dabei immer noch Erfahrungen bereit zu halten, löst eine Sehnsucht ein, die die Sehnsucht des Pop ist: im Lied eine für sich funktionierende Einheit zu finden; eine Einheit mit sich, dem Text, der Musik und den Anderen. Also einer Musik zu folgen, die geliebt werden will und der viele Leute folgen – über die unterschiedlichsten Pfade, aber mit demselben Ziel. Und für das Lied bedeutet das: die neurotischen Auswüchse des Denkens (und hiermit auch des Komponierens) zumindest in Ansätzen hinter sich zu lassen und eine Kunst zu finden, die direkt und unvermittelt mit dem Leben zu tun hat – abgesehen davon, dass das im Lied vermittelte Konzept des unvermittelten Lebens wahrscheinlich selber eine Neurose der (post-)industriellen Moderne ist.
Das Lied, sei es das romantische Kunstlied, das Volkslied, das Parteilied, das Kinderlied, der Schlager, der Chanson oder der Popsong lebt von dem Glauben der Hörer an den Text und seine Darbietung. Distanz einzunehmen zum Lied und dabei noch eine Erfahrung machen zu wollen, ist, wenn überhaupt, nur durch die auf Dauer einseitige Meta-Lust „Ach, was für ein Trash“ möglich. Kritisieren kann man immer. Die Erfahrungen und Erkenntnisse beginnen bei der Musik von Augst & Daemgen erst, wenn man sich, emphatisch gesprochen, in sie verliebt. Das heißt, wenn man bereit ist sich zu öffnen, auch wenn man dabei – insbesondere bei den älteren Alben – ins Schwanken geraten kann. Dort geriert sich die alte „Arbeit“ als eine schwer einschätzbare, faszinierende und unbändige Geliebte, deren Haltung ein jedes Sprechen und Handeln (im Musizieren) in neuem Licht erscheinen lässt: Der zuvor unverständige, altmodische oder kitschige Text (und sei es nur ein „Ich liebe dich“) erlangt Bedeutsamkeit über das ebenso tiefe Einverständnis mit dem Text, dass es keinen falschen, bedeutungslosen oder abzulehnenden Text gibt. Aber, um liedhaft zu enden: Im Leben ist selten etwas sicher und nach Augst & Daemgen am wenigsten im Schlager: „Illusionen blüh'n im Sommerwind / Treiben Blüten, die so schön, / doch so vergänglich sind / Pflückt sie erst an deinem Wege die Erfahrung, / welken sie geschwind…“

„In zehn Sekunden ist alles vorbei“, -  Chansons von Peer Raben, München/Berlin:Kuckuck Schallplatten/E.R.P. Musikverlag Eckhart Rahn, 2012.
„Fassbinder Raben“,  Liederreigen um Gesellschaftsspiele voll Spannung, Erregung und Logik, Grausamkeit und Wahnsinn, TEXTxtnd/Deutschlandfunk, Köln/Frankfurt: CCn’C-Records/DA-MUSIC (Deutsche Austrophon), 2010.
„JUGEND“, Brahms, Eisler, Haydn, Jürgens, Mahler, Schubert, Schumann, Wagner, Wolf revisited. TEXTxtnd/Deutschlandfunk, 2007.
„MARX“, Heine, Hölderln, Shakespeare, Brecht/Eisler, Arbeiterlieder, TEXTxtnd/Deutschlandfunk, 2004.
„An den deutschen Mond“, Vierzehn überarbeitete, deutsche Volkslieder. TEXTxtnd/Deutschlandfunk, 2001.
„Brecht-Eisler“, TEXTxtnd, 1998.

Die Interviewauszüge in diesem Essay basieren auf Transkriptionen des Gesprächs, das ich am 29. Mai 2012 mit Oliver Augst und Marcel Daemgen im Biergarten „Le Jardin“ geführt habe.

Interessant in diesem Kontext ist zu erwähnen, dass die einzigen Partituren von Augst & Daemgen am Computer durch eine „AudioToScore“-Software entstanden sind, um zumindest irgendeine Partitur ihrer Stücke bei der GEMA zwecks Erhalt von Tantiemen einzureichen.

Genaueres zu dieser „kleinen Theorie der Klangwahrnehmung“ und den darin impliziten ethischen Verstrickungen siehe: Bastian Zimmermann, „Matthew Herbert’s One Pig and the ethical reality of soundrecordings“,  200 –207, in: Sabine Breitsameter und Claudia Söller-Eckert (Herausgeber), The Global Composition – Conference on Sound, Media and the Environment, Dieburg, 2012.

So berichteten Augst & Daemgen während des Interviews vom 29. Mai 2012 von einigen ihrer Konzerte.



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Text über "ARBEIT" von Hanno Ehrler (DLF)
Text von Bastian Zimmermann (MusikTexte)
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