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JUGEND / 2005

Radiosendung von Hanno Ehrler DLF 12.5.05:
Deutschlandfunk
Redaktion Frank Kämpfer
Festspielpanorama, 21.05 Uhr
Donnerstag, den 12.05.2005
Festspielpanorama: Jugend. Volume 01: Freud (Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn)
6. März 2005, Deutschlandfunk Sendesaal

Hanno Ehrler
Teil 1

Am Mikrofon Hanno Ehrler. Heute stelle ich Ihnen einen Mitschnitt aus dem Deutschlandfunk Sendesaal vor. Im Rahmen des Konzertwochenendes "Forum Neue Musik 2005" präsentierten die Musiker und Performer Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn am 6. März dieses Jahres ihr "Electronic Music Theatre" mit dem Titel "Jugend. Volume I: Freud".

MUSIK 01
Track 1
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
Beginn 8´14´´

Vier Tische stehen auf der Bühne des Deutschlandfunk-Sendesaals nebeneinander. Diverse Dinge befinden sich auf ihnen, ein Megaphon, verschiedene Alltagsgegenstände, einige Synthesizer und Notebooks sowie elektronische Schaltungen und Geräte mitsamt den Kabeln, die sie verbinden. Das Ganze sieht aus wie der Aufbau für einen physikalischen Versuch. Da man ja zum Konzert geladen ist, handelt es sich dann wohl um ein akustisches Experiment, und die Materialien auf den Tischen sind die Klangerzeuger, mit denen das Experiment veranstaltet wird.
Vier Musiker kommen auf die Bühne, die Frankfurter Künstlergruppe "Arbeit" mit Oliver Augst, Marcel Daemgen und Christoph Korn und der Wiener Thomas Dézsy, der zum zweiten Mal an einem Projekt der Gruppe teilnimmt. Die Musiker setzen sich an die Tische und beginnen, an den elektronischen Geräten zu hantieren. Leise Töne entschweben den Lautsprechern, so leise, daß man sie nur undeutlich wahrnehmen kann. Sie erzeugen eine eigentümliche Atmosphäre, ein mit sanfter Spannung geladenes akustisches Raumklima, innerhalb dessen sich der Beginn der Performance entfaltet: die Begrüßung von Oliver Augst gehört schon dazu. Dann ergreift Christoph Korn das Wort und zitiert Sigmund Freud. Zur Unterstützung des Gesagten benutzt er einen Overhead-Projektor, der hinter seinem Tisch steht. Wie bei einem Kongreßvortrag werden Begriffe projiziert, und mit dem Zeigestock unterstreicht Christoph Korn seine Rede. So geht es weiter, mit Klängen, Berichten, Musikfragmenten, Zitaten, Ankündigungen und auch einigen theatralischen Elementen, wenn zum Beispiel Korn auf seinen Stuhl steigt, Zahlen nennt und dazu einige Gesten ausführt.
Dieser Auftritt ist mit herkömmlichen Kategorien schwer zu fassen. Er ist weder ein Konzert, noch eine Improvisationssession, noch ein Stück Musiktheater und besitzt doch gleichzeitig Elemente von allem. Am ehesten könnte man ihn als Performance bezeichnen. Die Musiker nennen diese Art zu arbeiten "Electronic Music Theatre", ein Begriff, der recht genau die Charakteristik der Arbeit beschreibt. Es ist eine elektronische Musik, weil fast alle Klänge mit elektronischen Geräten, seien sie so schlicht wie das Megaphon oder so komplex wie der Computer, erzeugt oder durch sie manipuliert werden. Dazu treten theatralische Komponenten, Gesten und minimalistische Sketche, die nicht so dominant sind wie bei einem Musiktheaterstück, aber doch eindeutig szenisch wirken. Außerdem werden die Beschaffenheiten des Aufführungsortes, in dem die Musiker spielen, gestalterisch einbezogen. Im Sendesaal des Deutschlandfunks erhellt das Publikumslicht den gesamten Raum, so daß er als Ganzes eine große Bühne bildet. Innerhalb dieser fokussiert sich der Blick auf die Tischreihen mit den Musiker als visuelles Zentrum.

MUSIK 02
Track 2 und 3
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
9´25´´

Das Thema dieses neuen "Electronic Music Theatre" von Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dészy und Christoph Korn kreist um den Begriff "Jugend"". Mit ihm verbindet die Künstlergruppe das "Unverbrauchte", das jugendlich revoltierende Erkennen und auch den Topos der intellektuellen, geistigen Revolution. Konkret bezieht sich das auf Aspekte der romantischen Geisteshaltung im 19. Jahrhundert und auch auf Züge der politischen Revolutionen dieser Zeit. Das fokussieren die Musiker an der Psychoanalyse von Sigmund Freud, weshalb die Performance "Volume 01: Freud" heißt, insbesondere an dem von Freud entwickelten Zweiergespräch. Der Stoff wird allerdings nicht historisch aufgearbeitet, sondern aus der Perspektive der heutigen Zeit betrachtet und mit gegenwärtigen Phänomenen gespiegelt.
Jedem vertraut ist ein Streitgespräch, wie es sich zwischen Frank und Barbara abspielt, eine mißlungene, von Emotionen gesteuerte Kommunikation. Sie symbolisiert die Zähigkeit des Alltags mit all den gesellschaftlich eingeschliffenen, im Unterbewußten zementierten Verhaltensmustern. Ebenso vertraut sind die psychologischen Tricks, wie man einen solchen Streit am besten aufzulösen hat. Christoph Korn listet sie auf und projiziert dazu ein Bild des Paares auf die Leinwand. Freuds Konzept des Psychischen erscheint hier heruntergebrochen auf alltagspsychologische Klischees, wie wir sie von den Massenmedien auf niedrigstem Niveau vermittelt bekommen.
Der Inhalt dieses "Electronic Music Theatre" wird nun keineswegs pädagogisch inszeniert, sondern mit Witz und Phantasie. Den Musikern geht es nicht um Positionsbestimmungen oder um das Verkünden von Botschaften, im Gegenteil. Sie zielen auf ein mehrperspektivisches Kreisen und Ausleuchten des Themas aus ihrer ganz persönlichen, individuellen Sicht. Deshalb erzählen sie auch keine durchgängige Geschichte. Sie werfen Splitter in den Raum, zum Beispiel die Szene zwischen Frank und Barbara oder die wissenschaftliche Definition einer endogenen Depression. Diese Splitter werden wiederholt, variiert, miteinander geschichtet, und sie wandern durch verschieden getönte Klangfelder. Sie werden von einem Musiker angestoßen, dann von einem anderen aufgegriffen und variativ verdoppelt. So entsteht ein komplexes Feld aus vielen ineinandergreifenden Klängen, mitsamt den überraschenden oder absurden oder auch witzigen Effekten.
Dieses Verfahren - der Bezug auf ein Thema der Vergangenheit, die Verwendung von textlichen und musikalischen Splittern dieses Themas, die Brechung und Neuschichtung dieser Splitter aus der Perspektive der Gegenwart und das Generieren einer diffizilen, vielschichtigen Musik - das alles prägt auch die vorangegangenen Arbeiten der Musiker. Eine davon beschäftigte sich mit Volksliedern. Sie begann mit der Suche nach dem Material, im Volksliedarchiv Freiburg und auch zuhause im eigenen Bücherregal. Oliver Augst:

1. O-Ton Oliver Augst
Ich hab also im Regal unter den Liederbüchern meiner Tochter bißchen rumgeguckt und also Sachen entdeckt, auch Textfassungen, denn das ist vielleicht das Entscheidende, wir haben, wenn man so will, was die Liedauswahl angeht, erstmal extrem subjektiv einfach so geguckt, was ist so da, was gefällt uns, aber dann gerade bei der Textbearbeitung festgestellt, daß in jedem Liederbuch, in jedem Heftchen, wo auch immer, immer wieder verschiedene Textfassungen vorliegen, und ich kann sagen, ich habe mir meine Version zusammengebaut, und das hört man auch, man wird auch feststellen, da fehlen manchmal so Endungen die bekannt sind, ich habs ein bißchen abgeschliffen, auch vereinfacht, ein bißchen übersetzt. 0´42´´

Dieses Abschleifen, Vereinfachen, Übersetzen und Verändern ist die kompositorische Arbeit der Musiker mit dem Material, sei es der Text, sei es die Musik. Die vertrauten Worte eines alten Volkslieds zum Beispiel werden wie ein Steinbruch verwendet und seine Melodie wird verschiedenen Kompositionstechniken unterworfen, solche, die man aus dem klassischen Komponieren kennt oder auch aus der elektronischen Produktion von Popmusik.

2. O-Ton Oliver Augst
Das ist eigentlich ne Arbeitsweise, daß jeder von uns ein komplettes eigenes Tonstudio zuhause hat, aber das heißt nicht, daß man da riesige Räume hat und Schallwände und so was, sondern jeder hat einen guten Computer zuhause stehen mit der entsprechenden Software, wir haben also angefangen so zu arbeiten, daß jeder seine Materialien selbst generiert, selbst auf Endproduktion hin fertigstellt, auch auf Endqualität hin fertigstellt, und wir haben dann eigentlich nur noch Daten ausgetauscht und die dann letztendlich zum Schluß zusammengefügt und gemixt und so, und das hat uns eben genau diese Arbeitsweise ermöglicht, daß also jeder seine Fragmente erzeugen kann, teilweise zur ner vorgegebenen Melodie, die also dann irgendwann festgelegt wurde, weils ja eben ein Lied ist, das ist also die einzig verbindliche Ebene, die bei vielen dieser Stücke durchgehalten wurde, das man sagt, das ist dieser Text und diese Melodie, und dazu kann man beliebiges collagehaft zusammenbauen, also das heißt da ist also genau diese Verschaltung, die erst viele viele Schritte später kommt, ist Ziel, die Vorarbeiten sind lauter kleine vollkommen autonome Schritte, die jeder von uns alleine vollzieht, man muß da versuchen anzuknüpfen beim Tonbandschnipsel, ja, also es gibt Rohmaterialien, Fragmente, O-Töne, computergenerierte analog generierte Klänge, die dann in nem relativ komplexen und langwierigen Verfahren zusammengebaut werden, immer wieder sagen wir mal abgecheckt mit den Kollegen, kann man das so stehen lassen, und so haben wir diese Stücke untereinander aufgeteilt, das heißt also, nachdem erst mal die Auswahl feststand, verschwinden die einzelnen Produzenten in ihren kleinen eigenen Räumen, und machen das erstmal so, und dann gibt's diese Gruppentreffen, da wird das dann besprochen, verworfen und so weiter. 2´01´´

MUSIK Heimat
Heimat: Heidenröslein
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
3´05´´

Das Lied vom Heidenröslein ist noch klar zu erkennen. Text und Melodie erscheinen vollständig, jedoch nicht am Stück. Pausen unterbrechen den Fluß des Gesangs, so daß das Lied gewissermaßen mit Bedacht erklingt, wie eine Erinnerung an etwas Vergangenes.
Das musikalische Umfeld, in das die Musiker das Volkslied hüllen, ist von elektronischen Rhythmusstrukturen, die immer wieder abbrechen und neu ansetzen, durchsetzt. Im Gegensatz dazu tauchen ein paar an Syntheziser oder E-Gitarre gemahnende Klänge die Melodie in ein sanftes harmonisches Licht und greifen den Erinnerungscharakter des Gesangs auf: sie symbolisieren die vergangene schöne Welt. Diese Bearbeitung des Volkslieds breitet ein Feld von Assoziationen aus, die mit dem Lied verbunden sind und es aus heutiger Sicht auf seinen Gehalt und seine Wertigkeit befragen.
Auch bei der Performance "Jugend. Volume 01. Freud" sammelten Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dészy und Christoph Korn Material: Texte von Freud und anderen Autoren, Liedgut der Romantik von Johannes Brahms, Gustav Mahler, Richard Wagner, Hugo Wolf und Franz Schubert, daneben einige Schlager, unter anderem von Udo Jürgens, die als modifizierte oder trivialisierte Fortschreibung des Romantischen in die Gegenwart gelesen werden können.
Plötzlich zum Beispiel erklingt das Lied vom Erlkönig. Es wird mit Dramatik gesungen, aber verfremdet durch ein vorgeschaltetes Megaphon und eingehüllt in eine geräuschige Klangwelt, die die dem Lied innewohnende Dramatik mit zeitgenössischen Sounds zu fassen sucht.

MUSIK 03
Track 4
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
9´57´´

Oliver Augst, geboren 1962, ist Performer, Komponist und Bühnenbildner. Er studierte visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Bühne an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und Popularmusik/Performance an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg. Er arbeitet als freischaffender Komponist, Musiker und Performer. Marcel Daemgen, geboren 1965, absolvierte eine klassische Musikausbildung mit den Schwerpunkten Klavier und Studiotechnik. Seit 1989 arbeitet er als freischaffender Komponist, Produzent und live-Musiker. Thomas Dézsy, geboren 1967, studierte Musiktheorie bei Dieter de la Motte an der Musikhochschule Wien und arbeitet dort als Assistent und Komponist. Er leitete das Totale Theater Wien und ist Gründer des Zoon music theatre, das sich mit neuen Formen des Musiktheaters beschäftigt. Christoph Korn, geboren 1965, studierte Politologie, Soziologie und Philosophie in Frankfurt am Main. Dort ist er Dozent für Ästhetik und Improvisation an der University of Applied Sciences. Seit 1989 arbeitet er als freischaffender Musiker und Komponist.
Die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe und die verschiedenen Betätigungsfelder der vier Künstler überschreiten einen rein musikalischen Horizont. Sie umfassen auch die Bereiche Performance, Theater, visuelle Kunst, Politik und Philosophie. Auf dieser Basis fließen sehr verschiedenartige Mittel und Techniken bei ihren Projekten zusammen.
Der Text ist daher genauso wichtig wie die Musik. Sprache erscheint in unterschiedlicher Form beim Auftritt der Künstlergruppe, zum Beispiel als Gesangstext, fragmentiert oder klanglich verzerrt, durchs Megaphon, und manchmal auch in prononciert reiner Form, wenn Oliver Augst das Lied "Illusionen" von Udo Jürgens intoniert. Eine andere Gestalt, in der Texte auf die Bühne gebracht werden, sind die kleinen, vom Overhead-Projektor unterstützten Vorträge, die Christoph Korn hält und in die die anderen Musiker gelegentlich einfallen, indem sie sie verdoppeln, variieren oder collageartig mit etwas Anderem beginnen. Texte und Textschnipsel dienen als Reflektions- und Assoziationsmaterial zum Thema des aufgeführten Stücks. Christoph Korn:

3. O-Ton Christoph Korn
Ich selbst komme mir manchmal vor wie ein Hermeneutiker, ein Übersetzer oder Archäologe, wenn man mal vom Begriff des Übersetzers ausgeht, kürzlich habe ich gearbeitet zum Hohen Lied Salomos, das ist ja etliche Male übersetzt worden, und je nachdem welcher Übersetzer an den hebräischen Ur-Text herangegangen ist, hat er andere Dinge archäologisch sozusagen hervorgebracht, zum Schimmern gebracht, und eigentlich ist es eine sehr sehr reizvolle Aufgabe, genau das, was eigentlich jeder kennt, noch einmal so zu formulieren, oder anders zu formulieren, daß es wieder formulierbar wird, etwas darin Aufbewahrtes noch einmal zu sozusagen zu formulieren und nochmal sagen zu können, daß es nicht der hunderttausendste Abklatsch eines schon Gesagten ist, oder aber ein politisches Interesse auch. 0´53´´

MUSIK 04
Track 5 und 6
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
14´06´´

Sie hörten den ersten Teil des Festspielpanoramas mit der Performance "Jugend. Volume 01: Freud" von der Musiker-Gruppe Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn. Nach den Nachrichten folgt der zweite Teil.


Teil 2
Am Mikrophon Hanno Ehrler. Wir setzen fort mit der Performance "Jugend. Volume I: Freud" von der Musiker-Gruppe Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn - dargeboten am 6. März im Deutschlandfunk Sendesaal im Rahmen des Festivals "Forum Neue Musik".

MUSIK 05
Track 7
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
6´21´´

Christoph Korn zählt berühmte Persönlichkeiten auf und bringt sie in eine Sitzordnung. Dabei singt Oliver Augst, durchs Megaphon verfremdet, romantisches Liedgut. Beides wird von einer melancholisch tröpfelnden Melodie begleitet, deren Töne dem Klangspektrum einer E-Gitarre ähneln. Doch plötzlich schlägt die Stimmung um. Die Musik fällt in einen schnellen Rhythmus, der aus Knackgeräuschen gebildet ist.
Die einzelnen musikalischen Elemente, die bei der Aufführung der Gruppe "Arbeit" live miteinander verflochten werden, entstammen der Vorarbeit, dem Sammeln, Schneiden und Manipulieren des Materials, das die Musiker in Bibliotheken, auf digitalen Speichermedien und in den persönlichen Erinnerungen der Künstler gefunden haben. Was daraus entsteht, nennen sie "Archiv". Jeder der Performer eignet sich seine Bestandteile des Archivs eigenständig an, bearbeitet, verzerrt, fragmentiert oder kommentiert sie ganz individuell. So erhält ein jeder nach und nach einen Pool von Materialbruchstücken, der abrufbereit im Sampler liegt oder ganz konventionell von Papier und Notenblättern gelesen und gesungen werden kann. Marcel Daemgen:

4. O-Ton Marcel Daemgen
In meinem Fall würde es zutreffen, daß sehr viel Material, was da drin vorkommt, viele Einzelfragmente sind durch Ausprobieren entstanden, ich hab nichts Fertiges Cleanes im Synthesizer vorgefunden, ach das ist ein Werksound, der ist toll, den nehm ich, sondern habe sehr sehr lang im Labor rumprobiert, bis ich Klänge hatte, hab die eingespielt, habe 30 Sekunden von 30 Minuten genommen für das Stück, habe wieder dreißig Minuten gespielt, habe wieder ganz wenige gefunden, die mir geeignet schienen, also das ist immer wieder auswerten von Neuem und überprüfen und dosieren. 0´39´´
Dieses Experimentieren, Auswerten und Dosieren des Materials ergibt dann zum Beispiel zitatähnliche Elemente, spezielle Ausschnitte oder hart geschnittene instrumentale Phrasen aus Liedern, die auf der Bühne einzelne Fasern des musikalischen Gewebes bilden. Andere Bestandteile entstehen durch teils extreme elektronische Verzerrungen. Sie kippen oft ganz ins Geräusch, das ohnehin einen bedeutenden Teil des akustischen Panoramas der Gruppe "Arbeit" ausmacht.
Die Musiker verwenden E-Gitarren, Synthesizer und etliche andere elektronische Geräte. Darunter nimmt das Mischpult eine ganz besondere Stellung ein. Es wird nicht als Regelgerät eingesetzt, sondern als Musikinstrument. Durch Rückkopplungsschaltungen wird es zum Klangerzeuger, der eine große Vielfalt an Geräuschen wie Zischen, Knistern, Brummen und Pfeifen generiert, Sounds, die normalerweise als Störgeräusche empfunden werden.

5. O-Ton Marcel Daemgen
Wir benutzen das Mischpult, mit dem wir Musik machen, nicht so wie das ein Tontechniker im klassischen Zusammenhang benutzt, sondern wir verwenden es gerade so, daß wir es selbst als Klangerzeuger einsetzen, indem wir Ausgänge, die normalerweise aus dem Mischpult heraus in externe Geräte führen, wieder ins Mischpult einführen und dann wieder in diesen Ausgang schicken, und dadurch entsteht die klassische Feedback-Schleife, die jeder Tontechniker normalerweise versucht, zu vermeiden, wir überzeichnen das Ganze, wir legen nicht nur eine von den Feedbackschleifen, sondern drei vier bis fünf, der Christoph schickt E-Gitarre durch Schleifen angerauht, ich schicke meinen analogen Synthesizer, der an sich selbst auch ziemlich hart klingt, aber klischeebehaftet, durch die Feedbackschleifen viel roher aufgerauhter, nicht mehr Moog oder Korg Sound sondern deftiger oder das Gegenteil fein und leicht, je nachdem wir stark man die feedback macht, lösen sich die Klänge wider auf bröseliger, feiner manchmal und dadurch fangen diese Feedbacks an zu schwingen und ergeben selbst Rhythmik, richtige klare Beats oder auch sehr komplexe Rhythmik, und auch in nem ganz breiten Frequenzspektrum findet das statt, also es ist nicht nur ein Fiepsen, spitzer Ton den alle befürchten, wenn man Feedback hört, sondern es ist eine sehr komplexe geräuschhaftige Rhythmik, die dann, wenn man sie in bestimmte Register führt, wirklich auch an Techno erinnert, aber an eine sehr extreme elektronische Dance-Musik könnte man sagen. 1´55´´
Die durch die Mischpulte generierten Geräusche erscheinen als Elemente der Musik. Sie bilden Hügel und Täler, Einschnitte und Markierungen der Klanglandschaft, und nicht selten sind sie sogar die Folie des Ganzen, wie bei der Volksliedbearbeitung "Der Jäger längs dem Weiher ging":

MUSIK Heimat
Heimat: Der Jäger längs dem Weiher ging
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
2´38´´

Geräuschhafte Klänge sind ein Schwerpunkt der Arbeit von Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dészy und Christoph Korn, wobei jeder der Musiker bestimmte Vorlieben und Affinitäten zu verschiedenen Musikstilen hat. Den Hang zum Geräuschigen jedoch teilen sie, ebenso eine mehr oder weniger ausgeprägte Nähe zur Popmusik. Marcel Daemgen:

6. O-Ton Marcel Daemgen
Wir haben unsere eigene ganz subjektiv persönliche Rangehensweise, unsere eigene musikalische Geschichte, und die kommt zum Teil aus dem popmusikalischen Kontext, aber aus dem Kontext der neuen Musik natürlich auch und der experimentellen Musik, der elektronischen Musik, also es fließen da einige Stilistiken ein, da gibt's durchaus auch ne Anleihe oder Verwandtschaft zu Dj-Musik Techno House, die vor 15 Jahren begonnen hat, auch Hiphop, das Geräusch zu organisieren zu Rhythmik, da erkennt man noch bass drum und snare, aber wie viele Sachen gibt's da wo mit Alltagsgeräuschen gearbeitet wird, wo Loops sind, das Scratchen, letztendlich ist das ein Fundus der kommt aus der Popmusik, ich greife Dinge auf die mir vertraut sind, wir greifen Dinge auf, aber auch die wir auf unseren Instrument ganz eigen entwickelt haben, die auch so in der Art keiner macht, deswegen klingt es auch ein bißchen anders als die meisten anderen Geräusche. 1´00´´

Geräusche sind heute ein fester Bestandteil selbst in der kommerziellsten Popmusik. Bei anspruchsvollen Produktionen stehen sie gleichwertig neben herkömmlichen Klängen und Tönen oder sind sogar dominant. Auf ähnliche Weise werden sie auch von Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dészy und Christoph Korn gewertet.
Zugleich scheuen sich die Musiker nicht, klischeehafte Formschemata aus der Popmusik zu übernehmen und sie für ihre Arbeiten zu adaptieren, zum Beispiel die Liedform und ein durchlaufender, oft einfach gestalteter Rhythmus. Im Projekt "Marx", das der Arbeit "Jugend" vorausging, beschäftigte sich die Künstlergruppe mit dem Marxismus und sammelte Material dazu, darunter das Lied "Der heimliche Aufmarsch" von Hanns Eisler. Auf der Basis eines Popschemas schichteten die Musiker geräuschdurchsetzte Klänge und Störgeräusche sowie Textschnipsel aus verschiedenen Zusammenhängen.

MUSIK Marx
Marx: Der heimliche Aufmarsch
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
4´23´´

Zwischen Geräusch und vertrautem Klang, zwischen kratzig Widerborstigem und kitschig Schönem entfaltet sich die Klangcharakteristik der Gruppe "Arbeit". Elemente aus beiden Bereichen können sowohl zum Fundament der musikalischen Architektur beitragen, etwa dem Rhythmus, ebenso aber Ornamente sein, die in das Strukturelle der Musik eingestreut werden. Das geschieht, um einen Abschnitt zu verdichten, um einen neuen inhaltlichen Aspekt einzuführen oder um eine Assoziation in den Raum zu setzen. Ähnlich wie bei der Textebene des "Electronic Music Theatre" verschränken sich bei der Musik viele Elemente auf intelligente und auch humorvolle Weise miteinander.
Dabei überschreiten die Frankfurter Künstler die Grenzen des traditionellen Werkbegriffs. Ihr Projekt ist ein work in progress, das sich im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema entwickelt. Außerdem präsentieren die Künstler es in unterschiedlichen Formen, als CD-Produktion, als Hörspiel für Radio und Internet und auf der Bühne. Je nach Medium wird das Material ganz unterschiedlich behandelt. Bei den CD-Produktionen erscheint es streng komponiert, so daß, wie im Fall des eben gehörten Titels aus dem Marx-Projekt, ein fixes Stück entsteht. Auf der Bühne jedoch spielt die Gruppe rein improvisatorisch.
Die von jedem Musiker selbständig erarbeiteten Bestandteile des Material-Pools bilden die Grundlage der Improvisation. Sie werden im live-Kontext abgerufen und kombiniert. Dabei bestimmen keinerlei Regeln oder Absprachen die Abfolge des Geschehens, keine Begrenzungen schränken die Phantasie der Improvisierenden ein. Unbestimmtheiten und Unsicherheiten gehören somit zum Konzept des Bühnenauftritts. Niemand weiß genau, was passieren wird, weder welcher Ablauf sich ergibt, noch wie die konkreten Bestandteile dieses Ablaufs klingen. Christoph Korn:

7. O-Ton Christoph Korn
Wir arbeiten ganz und gar nicht in diesem strengen Sinne, wie wir bei der CD arbeiten, daß wir wirklich unter ganz strengen kompositorischen Gesichtspunkten Dinge handhaben, sondern wie gesagt, das ist improvisatorisch, Zugang ist, daß wir diese Elemente jeder von uns sehr individuell sich aus diesem Spracharchiv gesampelt hat wenn man so will, und die werden tatsächlich im live-Geschehen improvisatorisch interagiert, da haben wir unser Setup, dieses Setup, dieses Setup besteht aus elektronischen Instrumenten, Gitarren, Megaphonen, Verstärkeranlagen, einen Sampler hat der Marcel auch dabei, und ich weiß zum Beispiel jetzt noch nicht, was ich in einer Stunde jetzt tatsächlich davon auch benutze und wie ich mein Setup benutze und welchen Klang ich hervorhole, das ist wirklich ganz offen. 0´49´´
Genausowenig wie inhaltliche Vorgaben gibt es dramaturgische Absprachen. So kann es geschehen, daß der musikalische Fluß quasi zusammenbricht, was die Gruppe keineswegs irritiert, im Gegenteil. Durch das Aushalten des Nichts generiert sie eine ganz eigentümliche Spannung.

8. O-Ton Korn
Unsere Arbeitweise ist eben so, daß wir keine Vorab-Dramaturgie machen, wo sich das Stück von A nach B entwickeln würde nach abgesprochenen auch dramaturgischen Kriterien, und dann kommt es natürlich auch, und das ist eine große Qualität unseres Quartetts, was sich in den letzten Jahren natürlich durch die Zusammenarbeit ergeben hat, was ich als große Qualität empfinde, daß es durchaus auch dramaturgisch an Nullpunkte kommt, ich persönlich genieße das wahnsinnig, jetzt diesen Nullpunkt auszukosten förmlich und nicht die Hatz zu entwickeln, jetzt gleich wieder etwas hineinzupowern, daß es irgendwo wieder schlüssig hingehen würde, sondern es bleibt an dem Punkt, und wir haben irgendwie die Qualität entwickelt, daß wir genau diesen Nullpunkt, der eigentlich als Fehler rezipiert würde, weithin auszukosten, und das ist eigentlich ein schönes Moment, ich genieße das immer sehr, wenn es an diesen Nullpunkt kommt. 1´03´´

MUSIK Ausschnitt
Track 8 und 9
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk

VARIABEL
Trotz der vielen Freiheitsgrade beim Bühnenauftritt, trotz des Fehlens von Absprachen und der dramaturgischen Unbestimmtheit, bleibt das Ganze dem zugrundeliegenden Material streng verpflichtet. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema haben sich die Musiker in die Materie hineinversenkt und können jetzt mit beliebigen Schnipseln des Ganzen frei jonglieren. So ergibt sich bei jedem Auftritt eine andere textlich-musikalische Gestalt, die aber jedesmal ähnliche Assoziationsfelder entfaltet.
Dieser raffinierte Balance-Akt zwischen Offenheit und Strenge gelingt auch wegen der unabhängigen, selbständigen Arbeit eines jeden Musikers am gleichen Thema. Die Stringenz des resultierenden Stücks ergibt sich durch das aufmerksame Hören aufeinander, durch die Neugier, wie der andere wohl mit dem Thema umgegangen ist und wie er es sich zueigen gemacht hat, durch den Synergieeffekt vier unabhängiger Künstlerpersönlichkeiten.

MUSIK 06
Track 8 und 9
Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn
Aufnahme Deutschlandfunk
17´30´´

Im heutigen Festspielpanorama hörten Sie die Wiedergabe der Performance "Jugend. Volume I: Freud" von und mit der Musiker-Gruppe Oliver Augst, Marcel Daemgen, Thomas Dézsy und Christoph Korn - aufgezeichnet am 6. März dieses Jahres im Deutschlandfunk Sendesaal im Rahmen des Konzertwochenendes "Forum Neue Musik". Durch die Sendung führte Hanno Ehrler. Redaktion: Frank Kämpfer.

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