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ICH / 2006

Publikation von John Birke

Vorne
Arbeitstreffen EMT und Birke, 3.7.06, Frankfurt/Main.
11:45 Ankunft in Frankfurt. Augst wartet am Gleis. Kein WM-Spiel, der Bahnhof relativ leer.
Die sonnige Bahnhofsallee hinunter. Augst kauft am Gemüsestand ein Schälchen Erdbeeren; für die Papaya, die die Verkäuferin anpreist, reicht sein Kleingeld nicht. Wir erreichen das Haus in der Bahnhofsallee. Bahnhofstraße? Überprüfen. Aufzug in den dritten, vierten? Besser aufpassen. Großzügige, sehr großzügige Wohnung. Und hell. Parkett natürlich. Und so was in Frankfurt zentral. Blick aus dem Fenster, die bekannten Bürotürme.
Ehinger stößt dazu, Campari wird gereicht. Ehinger nimmt ihn mit Soda, Augst und ich orange. Während Augst Brot röstet und Erdbeeren wäscht, Plauderei, dies und jenes. Nicht zu früh auf die Arbeit kommen. Erstmal Socialising. Man hat sich schließlich eine Weile nicht gesehen. Winter, Frühling, und jetzt im Sommer. Nächstes Treffen mutmaßlich im Herbst. Daemgen trifft ein. Erster Eindruck: Daemgen wirkt sympathisch und seriös. Das wird.
Augst bittet zu Tisch, ich öffne den Wein, Daemgen nimmt keinen Alkohol. Sehr seriös. Was soll's. Es gibt Gazpacho mit Garnelen. Sommerliches Essen, richtig so. Langsam kommt man zum Thema. Rantasten. Raum, Verfahrensweisen, Abläufe. Augst macht einen Vorstoß: sein "Archiv Deutschland" wieder. Daemgen diagnostiziert ein neues Nationalgefühl, ein unproblematisches, auf Fun begründetes. Ehinger hat die erste Schwarzrotgold-Fahne ihres Lebens besorgt, für die Tochter. Ich verspritze Tomate. Etwas peinlich, man will ja Manieren beweisen. Manieren plus lässiges Savoir-vivre, gar nicht so einfach.
Das Essen ist exakt gewürzt, Respekt. Gazpacho ist nicht so leicht. Augst entschuldigt sich, dass es kein Gulasch gibt. "Becoming german". Ist das ein Titel? Es wäre einer, klanglich etc. durchaus ein Titel. Trotzdem noch unklar, was will man mit Deutschland. Zweites Glas Wein. Etwas behutsamer trinken, es ist ja Mittag. Mein Vorschlag: sich Deutschland nicht über Deutschland zu nähern, sondern über Kroatien meinetwegen, oder Togo. Wenig Gegenliebe, ich hätte es besser verkaufen müssen. Zwei Stücke Brot noch übrig, schnell eines nehmen. Die Garnelen zart aber mit Biss, wirklich ein gutes Essen. Man muss Deutschland ganz klein angehen, wegen der WM ist es jetzt so ein Thema. Viel zu sehr ein Thema. Du bist Deutschland und so weiter. Wie kommt man da rein. Bin noch skeptisch.
Ehinger liest die mitgebrachten Texte, Augst bereitet die Erdbeeren vor. "und dass mein sohn aus seinen fehlern lernt / und dass mein sohn unter menschen kommt". Ein Kaffeeschnaps über die Erdbeeren, vorsichtig schütten, nicht dass der Teller schwimmt. "und dass mein sohn weiß was er kann / und dass mein sohn" usw. Die Erdbeeren nicht zu süß, hervorragend. Ein Glück, dass Sommer ist. Augst raucht einen Zigarillo, Romeo y Julieta Mini. Ich mit meinen schäbigen Zigaretten. Diskussion zu nah an den Texten. Und irgendwie schaffen sie es, nun wieder alles auf Deutschland zu beziehen. Man kriegt dieses Deutschland jetzt nicht mehr weg. Kapituliere.
Espresso zum Abschluss. Rheingold. Worum ging's da noch? Muss man doch wissen als Deutscher. Ehinger nimmt viel Milch, ich wenig Zucker. Wagner ist ja gar nicht meins. Aber wenn man über Wagner-Pizza, Franz Josef Wagner kommt: die Umwege wieder. Kaffee nach dem Essen ist unersetzlich. Der Schatz im Silbersee. Rheingold, der Schatz im Silbersee. Kriegt man das zusammen? Eher nicht. Rheingold.
Umzug ins Eiscafé direkt vor der Haustür. Ein After-Eight-Becher für mich. Deutschland scheint dann abgeklärt, erst mal was zusammenschreiben. Jetzt noch ein bisschen Sonne und Eis zum Ausklang. Augst redet übers Bühnenbild. Konferenzraum, eine Holzplatte im Hintergrund, Fernsehstudio quasi. Klingt gut, alle einverstanden. Das Eis löst sich etwas zu rasch auf, eine Minz-Schoko-Matsche ist das jetzt. Augst entwickelt noch etwas weiter. Leicht schwebend, die Platte, einen halben Meter über dem Boden. Alle einverstanden. Eine Minz-Schoko-Soße. Furnier vielleicht. Ja ja, alle einverstanden.
Den Becher lasse ich stehen, halb voll mit Soße. Ehinger kauft noch ein Eis für ihren Sohn, Daemgen hat auch Termine. War doch erfolgreich, also dann, Rheingold, Furnier, alles klar soweit. Die immer noch sonnige Bahnhofsallee hinauf, vorbei an Gemüse und Fußballschals. Bevor der Zug fährt, reicht's noch für einen Espresso.

Mitte1.10.
Ankunft Graz.
162 Blatt Papier mit Arbeitstext
102,3 MB Tonmaterial
4 Namenslisten
3 Partituren Karl May "Ave Maria"
1 Buch Howard Rheingold "Smartmobs: The Next Social Revolution"
1 Buch Marlene Streeruwitz "Sein. Und Schein. Und Erscheinen"
1 Apple 12'' iBook G3
1 Gericom 15'' Notebook
1 Miditech Play 'n' Roll USB-Keyboard
1 Yamaha QY Music Sequencer
1 Mischpult Behringer Eurorack MX1602
1 Mischpult Behringer Eurorack MX1602A
2 Mikrofone
9 Klinkenkabel
1 Stereokabel Miniklinke auf 2 große Klinke
=
Sonne in Graz, Unterkunft bei den Nonnen. Erstes Treffen, Raum begutachten. Bühnenaufbau. Schöner Guckkasten an der Stirnseite - da die Bühne rein? Auf keinen Fall. Auf gar keinen Fall. Mitten in den Raum muss die geknallt werden, wie ein Ufo, so wie ein Fernsehstudio, links und rechts, davor und dahinter die bekritzelten Wände, Kabel, leere Flaschen, Technikracks, und mittendrin dieser Hochglanzfremdkörper reingefallen.
Tischaufbau. Hufeisen? Freie Stühle? Seminarartig? Ausprobieren. Entscheidung für das Klassische: Tischfront, beinah feindlich, vier Stühle, v.l.n.r. Augst, Birke, Ehinger, Daemgen. Alle Kabel bitte gut zu sehen. Bitte viele Kabel bitte. Dazu die Namensschilder. Was ist das mit den Namensschildern? Muss noch geklärt werden.2.10.
Keine Seife bei den Nonnen. Bosse so freundlich Seife mitzukaufen. Halleluja.
Immer noch sonnig. Diskussion unter Bäumen: Was ist das mit den Namensschildern? Wie verarbeiten wir das? Weiß auch noch nicht genau.
Umgebung: Internet 3 min, Kaffee 4 min, Zigaretten 8 min.
Fucking Namensschilder.
=
Die Bühne ist nicht fertig. Was bleibt übrig: Chorprobe.
Es will das Licht des Tages scheiden;
es tritt die stille Nacht herein.
Ach könnte doch des Herzens Leiden
so wie der Tag vergangen sein!
Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
o, trag's empor zu Gottes Thron,
und lass, Madonna, lass dich grüßen
mit des Gebetes frommem Ton:
Ave Maria!
Karl May, Winnetou III. Wo kommt das vor? Winnetou III? Pierre Brice und Lex Barker singen? Nein nein nein. Die meisten kennen ja die Bücher in Wirklichkeit nicht - die Deutschtümelei, die Missionsarbeit, wie's im Westen von betenden Sachsen wimmelt. Also Internetrecherche. Wie gehen die Textstellen genau? Seitenweise May-Ausdrucke, unübersichtlich, Seitenzahlen vergessen.
Was war denn das? Das war ja mein eigenes Gedicht, meine eigene Komposition, mein Ave Maria! Wie kam dies hierher in die Wildnisse des Felsengebirges? Ich war zunächst ganz perplex; dann aber, als die einfachen Harmonien wie ein unsichtbarer Himmelsstrom vom Berge herab über das Tal hinströmten, da überlief es mich mit unwiderstehlicher Gewalt; das Herz schien sich mir ins Unendliche ausdehnen zu wollen, und es flossen mir die Tränen in großen Tropfen von den Wangen herab.
Noch sind ein paar Kabel nicht verkabelt, ein paar Stecker nicht gesteckt, ein paar Schalter nicht geschaltet. Also Graz erkunden. Café "Promenade" unter Kastanienbäumen. Die schöne rothaarige Kellnerin heißt Violeta. Der Kaffee schmeckt, das können sie wirklich, die Österreicher. Bringt man das noch rein - Kaffee in Österreich vs. Kaffee in Deutschland? Genug von dieser Deutsch-Österreichisch-Schiene. Das fließt sowieso die ganze Zeit mit rein.
Der alte Hillmann blickte verwundert auf und fragte: »Wohl gar ein deutscher Landsmann? Kennst du ihn?«
» Ja, aber ich mußte mich erst besinnen. Willkommen, Herr! Nicht wahr, Sie sind es, der das Ave Maria gedichtet hat, welches wir soeben gesungen haben?«
Jetzt war ich an der Reihe, mich zu verwundern.
» Allerdings,« antwortete ich.
[…]
»Ein Deutscher - ein Bekannter von Bill - ein Dichter - von unserm Ave Maria!«
So rief es rund um mich her, und so viel Männer, Frauen, Buben und Mädchen zugegen waren, so viele Hände streckten sich mir entgegen und so viele Stimmen riefen mir ein immer wiederholtes Willkommen zu. Es war für mich ein Augenblick der Freude, wie man sie nicht sehr oft erlebt.
Wenn wir schon das "Ave Maria" singen, muss das vorbereitet sein, auch auf der Bühne. Was ist deutscher als Karl May? Die Selbstgerechtigkeit, der Pathos, dieses widerlich gutdeutsche deutschgroßartige Unfehlbare. "Deutsche Herzen, deutsche Helden" heißt ein Buch. Wagner im Wilden Westen.
Becoming German - eine deutsche Kindheit empfangen. Langsam nimmt dieser Teil Form an.3.10.
Die Namensschilder.
"Similar to the way previous media dissolved social boundaries related to time and space, the latest computer-mediated communications media seem to dissolve boundaries of identity as well. One of the things that we "McLuhan's children" around the world who grew up with television and direct-dialing seem to be doing with our time, via Minitel in Paris and commercial computer chat services in Japan, England, and the United States, as well as intercontinental Internet zones like MUDs, is pretending to be somebody else, or even pretending to be several different people at the same time.”
Howard Rheingold, The Virtual Community
Daher die Namensschilder. Dramaturgie. Du bist immer auf Standby. Weitere assoziative Knotenpunkte. Hätten wir das geklärt.
=
Und noch ein Kaffee bei Violeta.4.10.
Erste Probe. Sprache Musik Musik Sprache. Vermusikalisieren wir hier Sprache oder versprachlichen wir Musik? Macht die Frage Sinn? Ist das eine Frage? Muss sich eins gegen das andere behaupten? Erzählbögen werden abgelöst von musikalischen Bögen. Musikalische Bögen bilden neue Erzählbögen. Das Ganze inhaltlich denken: reine Überforderung. Man muss das rein musikalisch denken (mitdenken). Wie kriegt man diesen Inhalt trotzdem durch? Egal. Ein Jam. Musikalisch denken. Der Inhalt ist stark genug, der setzt sich von alleine durch. Die (Be)deutungsspuren, die entstehen, sind sowieso jedesmal überraschend.
Gute Probe. Das läuft. Keine Fragen mehr.5.10.
Und noch ein Kaffee bei Violeta.
=
Abends Skatspiel. Daemgen ist hoffnungslos.
Michaela Oliver Marcel John Spiel
   -48       --     -48     --    48
     --       --     -68     --    20
   -83       --     -103    --    35
    --      -72       --    -72    72
    --       --      -147   --     44
    --       --      -170  -115   23
    --       --      -314    --   144
    --      -132     --    -175   60
  -129      --      -360    --    46
    --      -150     --    -193   18
    --       --      -396  -229   36
  -177      --       --    -277   48
   --        --      -436    --    40
   --      -192     -490    --    44
   --        --      -526   -313  36
"Bierlachs" heißt diese Notationsvariante. Punkte werden negativ geschrieben, wenn der Erste -500 erreicht hat, ist das Spiel vorbei. So läuft die Produktion auch (betrunkener Gedanke) - nicht auf die eigenen Punkte spielen, sondern den anderen Punkte zuschanzen. Punkte loswerden; wenn einer genug Punkte gesammelt hat / Material untergebracht hat, ist Schluss. Oder so. Guter Gedanke, vielversprechend, noch etwas vage; morgen präzisieren, heute zu benebelt.6.10.
Nebel. Viel Nebel für den Schlussgesang. Die Bühne überfluten soll er, Ufo wieder. Schneebacher spielt MacGyver und bastelt gewagte Konstruktionen, bis das Zeug gleichmäßig über die Bühne fließt und die Füße verklebt. So ist richtig, das muss schmatzen beim Abgang.
=
Abends Show. Wie notiert man so was? Noten natürlich möglich. Sieht aber so fixiert aus. Und ohne Noten? Vielleicht eine Zeitleiste:
EINFÜGEN: show1.pdf7.10.
Letztes Mal "Promenade". Violeta hat sich die Hand verbrüht und kommt nicht zur Arbeit. Also auch nicht zur Show, keine Chance.
=
Den Tag vertrödeln. Abends wieder Auftritt.
EINFÜGEN: show2.pdf
Wie notiert man so was? Musiktext Textmusik. Egal. Ins Bett. Vorher noch mal Skat. Daemgen ist hoffnungslos.8.10.
Abreise.
Tschüss Graz.
Hallo Frankfurt.
Es geht erst los.

Hinten
ICH 0 "Trost" 05.10.06, Theater im Bahnhof, Graz
ICH 1 "Rheingold" 06.10.06, steirischer herbst, Graz
ICH 2 "Demo Gegendemo" 06.10.06, steirischer herbst, Graz
ICH 3 "Anfangen ist scheiße und aufhören auch" 07.10.06, steirischer herbst, Graz
ICH 4 "Ave Maria" 07.10.06, steirischer herbst, Graz
ICH 5 "Cowboy / Indianer" 01.12.06, Mousonturm, Frankfurt a.M.
ICH 6 "Multi User Real Life 02.12.06, Mousonturm, Frankfurt a.M.
ICH 7 "Deutsche Herzen, deutsche Helden" 03.12.06, Mousonturm, Frankfurt a.M.
ICH 8 "Immer auf Standby" 06.02.07, MAK NITE, Wien
ICH 9 ______________________ ___________________________

Sie sehen und hören einen Ausschnitt aus einem wahrhaftigen Langzeitprojekt, eigentlich einem Endlos- oder Lebensprojekt … Die Arbeit an ICH fängt nirgendwo an und hört niemals auf.

Film (Ausschnitt, Steirischer Herbst , Graz/A, 2006)

Film (Teil 1-6, Mousonturm, Frankfurt, 2006)
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